T E X T

E S S A Y S


Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft: Das Menschenbild im Werk Kathrin Henschlers

von Dr. Ulrike Brinkmann

„Aus Bestehendem entwickelt sich Neues, das als Keim im Alten vorhanden ist.” (Kathrin Henschler)

Menschen in Bewegung, in Stille verharrend, jung, alt, männlich weiblich, vereinzelt, als Paar, eng umschlungen, sich lösend, anziehend. Verzweifelt, wütend, fröhlich, tanzend, träumend, in sich versunken, verschlossen, beschützend, entdeckend.

Ein Netz aus feinen Linien, die all diese Figuren umschreiben, überzieht einen Großteil der Werke Kathrin Henschlers. Die 1980 in Naumburg geborenen Leipziger Künstlerin versteht es den Betrachter in ihre Arbeiten regelrecht hineinzuziehen. Jeder Blick offenbart etwas Neues – eine neue Gestalt, einen neuen Aspekt –, das erst beim längeren Verweilen sichtbar wird.

Der Mensch, unabhängig von den ihn charakterisierenden Merkmalen, aber in all seinen Facetten als Individuum, steht im Mittelpunkt des Schaffens Henschlers – es sind die kleinen und großen Dramen denen sie ein Gesicht gibt. Ausgehend von den existentiellen Urthemen wie Leben und Tod, Liebe und Hass, Glaube und Hoffnung oder Schuld und Unschuld erzählt sie von der Dynamik des Lebens, von Umbrüchen und dem Kampf des Einzelnen, seinen Platz und damit einen Sinn im Leben zu finden. Neben Einzelfiguren in unterschiedlichen Gemütszuständen finden sich immer wieder auch Paare in verschiedenen Konstellationen. Mal sind sie eng umschlungen, mal streben sie auseinander, mal stehen sie vereinzelt, sind geistig miteinander verbunden. Werktitel wie „Bergen“, „Lösen“, „Frage“, „Layering truth“, „Dazwischen“ oder „Wenn Licht ist“ sind dabei ein wichtiger Teil des Ganzen, reflektieren sie doch den Inhalt und können dem Betrachter einen Anhaltspunkt zur Entschlüsselung geben.

So auch in dem großformatigen Porträt „Umkehr“ (2017). Gegenstand der Arbeit ist ein menschliches Antlitz ohne konkrete Hinweise auf eine reale Person oder auch nur auf das Geschlecht. Individuelle Merkmale wie Frisur oder Kleidung sind verborgen im Dunkel. Dreiecke, Winkel und Linien aus feinen, roten Strichen gliedern den Raum hinter dem Dargestellten. Das in unterschiedlichen Rot- und Brauntönen gehaltene Gesicht blickt nachdenklich am Betrachter vorbei in die Ferne. Scharfkantige und spitze, geometrische Flächen waagerecht, senkrecht und diagonal, zerschneiden es regelrecht, geben diffuse Farbverläufe frei, irritieren. Darüber ziehen sich die bereits beschriebenen zarten Zeichnungen menschlicher Figuren beziehungsweise Figurenfragmente: hier ein Arm, dort ein Gesicht, Männer, Frauen, Kinder, liebevolle Paare, Einzelfiguren gedankenversunken, träumend oder kraftvoll in Bewegung. Sie wirken wie Erinnerungsblasen an die Kindheit, an Begegnungen und Erlebnisse, an Liebschaften. Wohingegen die scharfkantigen, spitzen Farbflächen an ein zersplitterndes Spiegelbild erinnern. Der Porträtierte selbst scheint in einer Art Zwischenzustand zu verweilen: die Vergangenheit ist noch nicht ganz Abgeschlossen, das Zukünftige noch nicht greifbar, der einzuschlagende Weg nicht sichtbar. Es sind die Zeiten des Umbruchs, die zum Nachdenken und Innehalten anregen, die aber auch Angst machen können – was ist, was bleibt, was kommt? Umkehren in die gewohnte Sicherheit oder doch mutig weitergehen?

Das vielschichtige Gemälde „Bergen“ aus dem Jahr 2016 ist rätselhafter. Aus einem Hintergrund, der in Bronze-, Kupfer- und Schwarztönen gehalten ist, schälen sich weißgehöhte Menschengruppen und Einzelfiguren gehüllt in diffuse Nebelwolken, die die Szenerie immer wieder verschleiern. Der Blick bleibt an einer Figurengruppe in der unteren rechten Bildhälfte hängen: eine einzelne junge Frau in kurzem Kleid, die einem imaginären Gegenüber den Arm hinstreckt und ihm etwas reicht, sowie zwei Paaren – eines eng umschlungen über der Frau, das andere in fortstrebender Bewegung unter ihr. Eine Art Gegenpol bilden diagonal in der oberen linken Bildhälfte darüber, ein eher in sich gekehrter Mann, der seine linke Hand vor seinen Körper hält, und eine Figur, eigenartig verbogen, darunter.

Über dieses Menschengewirr gelagert, rhythmisieren zart gesetzte, kaum wahrnehmbare Linien und geometrische Formen das Bild und geben ihm Ruhe. In einer letzten Schicht findet sich wiederum ein fragiles Netz menschlicher Figuren. Bei näherer Betrachtung erkennt man bereits vertraute Gestalten, wie den träumenden kleinen Junge im Schneidersitz, der so ganz im Hier und Jetzt versunken scheint und auch in dem Gemälde „Umkehr“ vertreten ist. Aber auch gänzlich andere Facetten der menschlichen Persönlichkeit sind dargestellt.

In beiden Figurenschichten – den Gemalten auf dem Bildgrund sowie den mit feinen Strichen über alles Gezeichneten – meint man Anleihen aus der Kunstgeschichte zu erkennen: So zum Beispiel eine an einen Baum gefesselte Märtyrerfigur, wie sie sich ähnlich auf verschiedenen Darstellungen des „Hl. Sebastians“ aus der Renaissance finden (vgl. z.B. bei Antonello da Messina oder Sandro Botticelli), als Skizze zwischen den Beinen der oben erwähnten verbogenen Gestalt. Oder in der rechten oberen Bildhälfte die verzweifelte Figur, die die Hände vor das Gesicht schlägt und entfernt an die zahlreichen Verdammten in Michelangelos „Jüngsten Gericht“ in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans erinnert. Auch für das Gemälde als Ganzes finden sich Vorläufer, so z.B. in dem „Höllentor“ von Auguste Rodin, der wiederum seine Inspiration aus Dantes „Göttlicher Komödie“, Ovids „Metamorphosen“ sowie Baudelaire „Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen)“ zieht – alles Werke, die sich mit der vielschichtigen Existenz des Menschen und dessem Kampf durch das Leben und gegen die Endgültigkeit des Todes beschäftigen.

Der Titel „Bergen“ ist bei der Deutung wenig hilfreich. Er ist genauso mehrdeutig wie das Werk vielschichtig. So gibt es allein 158 gefundene Synonyme, eingeteilt in 17 unterschiedliche Bedeutungsgruppierungen (vgl. http://synonyme.woxikon.de/synonyme/bergen.php, 07.08.2017). Als Bedeutung finden sich hier unter anderem „enthalten“, „bewahren“ und „einschließen“. Aber auch „retten“, „befreien“, „erkennen lassen“, „zur Folge haben“ oder „in Sicherheit bringen“. Letztendlich ist es wohl genau das, worauf Henschler hier hinweisen möchte: auf die Vielschichtigkeit und Komplexität des Lebens mit all seinen Wendungen und Brüchen, die es oftmals erst zu bergen gilt.

Kathrin Henschlers Interesse gilt aber nicht nur der Darstellung des Menschen, seinen Beziehungen und Empfindungen, sondern auch an der Stofflichkeit ihres Arbeitsmaterials und dessen (Farb-)Wirkung. Seien es Zeichnungen in Holz eingebrannt oder verschiedene Lackschichten auf Holz auf- und wieder abgetragen, Öl auf Leinwand oder Teer hinter Glas auf Papier. Die Farbwelt beschränkt sich vielfach auf naturnahe Töne, nur selten unterbrochen von einer klaren, leuchtenden Farbigkeit. Meist überwiegen Zwischentöne wie Braun und Grau oder die sogenannten Nichtfarben Schwarz und Weiß.  Häufig ist es auch eine Kombination aus verschiedenen Techniken in Verbindung mit sich zurücknehmenden Hell- und insbesondere Dunkeltönen, die der inhaltlichen Komplexität erst ihren Ausdruck verleihen. Für viele ihrer Werke nutzt sie den Werkstoff Teer. Mit ihm erreicht Henschler die verschiedenen Brauntöne bis hin zu einem alles verschlingenden Schwarz. Zudem gibt er ihren Arbeiten die nötige Tiefe und zwingt sie zum raschen aber dennoch sorgfältigen Arbeiten. Es ist ein billiges, schmutziges Material – ein Produkt, dass aus der thermischen-zersetzenden Behandlung organischer Naturstoffe, wie zum Beispiel Kohle, Öl, Torf oder Biomasse, entsteht und früher im Straßenbau aber auch in der Medizin verwendet wurde. Auf Glas aufgetragen entwickelt Teer eine gänzlich andere Ästhetik: „Wenn ich die Teerbilder umdrehe – sich diese glänzende Oberfläche zeigt – erinnert sie mich an Monitore, Fernsehapparate. Dann spiegelt sich der Betrachter in den geschwärzten Flächen, in den Figuren“ (Henschler in Kathrin Henschler. Die Dinge Behüten – Tägliche Zeichnung, o.J., o.S.). Somit verharrt die Künstlerin nicht in der Geschichte, sondern verbindet sie mit der Gegenwart sowie – indem sich der Betrachter in den geschwärzten Flächen spiegelt – mit der gerade passierenden Wirklichkeit. Der Betrachter wird aber gleichzeitig auch in das jeweilige Werk mit hineingezogen und wird somit Teil des Ganzen.

So gehen Technik und Inhalt der Arbeiten Kathrin Henschlers eine zeitlose Symbiose ein, die von der Vielschichtigkeit des Lebens mit all seinen Bedingungen erzählt: von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.


TEER, GLAS, KÖRPER, DUNKEL, LICHT

von  Prof. Annette Krisper-Beslic

In dunklen Räumen zwischen Grenzen und Strukturen finden Sie dennoch statt: Versuche von Begegnung, Verständigung, Selbsterhaltung, Berührung; um sie scheinen die Figuren in Kathrin Henschlers Bildwelten zu ringen, sie versuchen aufzutauchen, sich zu erkennen, zu behaupten, nicht zu versagen, gegen die einengenden Strukturen anzugehen.

Es sind Nachkommen wie wir alle, die Kinder und Kindeskinder jahrtausendealter sich bewegender Völker- in Frieden, Krieg, Zerstörung, Flucht, gebärend, liebend, kämpfend, untergehend oder auferstehend- mit den gleichen Gesten, der gleichen Körpersprache wie wir alle JETZT.

Die modernen Medien überschwemmen uns. Unsere Wahrnehmung mit Menschen, die JETZT IN ECHTZEIT vor unseren Augen leben, leiden, an Grenzen, Straßen, Bahnstrecken, Hilflosigkeit, Trauer, Ausgeliefertsein, Zorn, Stärke und Zerbrechen. Inmitten der „babylonischen“ Sprach- und Verständigungsverwirrungen. Weltweit erkennen wir uns selbst und „den Anderen“ an Gesten, Gesicht und Körpersprache- die gleichen wie in den Ursprungskulturen aus denen wir hervorgegangen sind.

An Bildern und Bildwerken zu sehen: Ur, Persepolis, Ninive, Pompeji -Mittelalter, Renaissance bis zu Moderne und JETZT. Von Pergamon, von Laokoon über Michelangelos „Erschaffung der Welt“ und „Jüngstem Gericht“ – über die Moderne mit dem endzeitlichen Zerfallen der Körper – nach Weltkriegen und atomarer Vernichtung-  bei Picasso und Bacon.

Und nun die immer neue Suche nach Neu-Konstituierung, nach einer trotzigen Renaissance, ohne jemals aufgeben zu wollen- wie der Sisyphos des Albert Camus. Ich bin sehr berührt von einem solchen unerschütterbarem Glauben und Ringen, den Menschen immer wieder als Ganzes erleben zu wollen, über Bilder Verständigung, Begegnung, menschliche Würde einzufordern, zu beschwören, zu rekonstruieren.

Kathrin Henschler bleibt stringent, suchend und ohne modische Attitüde auf ihrem Weg, auf zerbrechlichen und spiegelnden Gründen, mit Teer und Farbe.